Vortrag Lernen und Bewegung

Mein Vortrag zum Thema " Lernen und Bewegung "

anlässlich unseres Tages der offenen Tür am 30. 08. 2020

Lernen geschieht nicht nur im Kopf!

Wir wissen, dass das Gehirn mit dem Rest des Körpers verbunden ist. Und trotzdem nehmen wir das Denken als einen körperlosen Vorgang wahr – als hätte der Körper nur die Aufgabe, das Gehirn von A nach B zu bringen. Aber Denken und Lernen geschehen nicht nur im Kopf! Unsere Sinnesorgane füttern das Gehirn mit Informationen und komplexe Bewegungen regen das Wachstum des Gehirns an.

Dazu passt ein Zitat von Robert Sylvester (Erziehungswissenschaftler)

„Bildungssysteme, die die Beweglichkeit der Schüler auf ein Minimum reduzieren – indem sie nur noch Abfolgen von Buchstaben und Zahlen auf ein Spielfeld so klein wie ein Blatt Papier aneinanderreihen -, haben nicht verstanden, wie wichtig die motorische Entwicklung ist.“

 

Beginnen wir ganz am Anfang:

Ein Säugling übt im ersten Lebensjahr unablässig, Tag für Tag, und treibt die Gehirnentwicklung stetig voran. Frühkindliche Reflexe werden integriert, die Sinnesorgane verbessern ihre Funktion und das Kind wird schlauer und schlauer.

Laut einer Studie korreliert eine Verzögerung in der grob- und feinmotorischen Entwicklung im ersten Lebensjahr signifikant mit der kognitiven Entwicklung und der Verhaltensregulierung im fünften Lebensjahr!

(Schoon, I. (2010) Personal communication)

Später wird das Kind im schlechtesten Falle aus Bequemlichkeit oder Angst in der Wohnung behalten, es verbringt seine Zeit vor Bildschirmen oder am Tisch, manchmal auch beschäftigt mit durchaus gut gemeintem „Vorschultraining“.

Es wurde übrigens festgestellt, dass Jungen für das Wachstum und die Entwicklung des Gehirns mehr Bewegung brauchen als Mädchen!

Weltweit gibt es Studien an Schulkindern die belegen, dass die schulischen Leistungen sich nach regelmäßigen Bewegungseinheiten verbessert haben.

 

Was für Voraussetzungen braucht denn ein Schulkind, um gut lernen zu können?

Meine Liste ist bestimmt unvollständig, beinhaltet aber schon eine ganze Menge:

Es braucht:

- Ein gut ausgebildetes Gleichgewichtssystem

- Gutes Sehen (besteht aus verschiedenen Komponenten)

- Gutes Hören inkl. guter Hörverarbeitung

- Gute Eigenwahrnehmung (Propriozeption / Körperschema / Taktilität)

- Ein Schreibgerät adäquat halten und damit umgehen können

- Stabile Emotionalität

- Konzentrationsfähigkeit (Ausdauer, wenig ablenkbar)

- Stabile Gesundheit

- Ausreichend Schlaf

- Vernünftige Ernährung

- Pausen / Zeit zum Spielen

- Motivation ( Lob, Ermutigung, angenehme Lernatmosphäre…)

- Eltern-Kind Dialog / Körperkontakt

 

Und im Gegenzug dazu habe ich auch eine Liste von Faktoren erstellt, die das Lernen hemmen:

- Angst und Stress

- Ein unausgereiftes Gleichgewichtssystem

- Bewegungsmangel

- Schwierigkeiten im Hören/ Hörwahrnehmung

- Schwierigkeiten bei der visuellen Wahrnehmung (als Oberbegriff verwendet)

- Keine Entspannung, kann sich nicht entspannen

- Zu wenig / nicht erholsamer Schlaf

- Lebensmittelunverträglichkeiten

- Emotionale Unausgeglichenheit

- Konzentrationsschwierigkeiten

- Gesundheitliche Probleme

- Mangelnder Körperkontakt und (emotionale) Unterstützung durch die Eltern

Dazu passt ein weiteres Zitat:

„Wenn Du (als Elternteil) ein Kind immer kritisierst, wird es nicht aufhören, Dich zu lieben. Es wird aufhören, sich selber zu lieben!“ (Unbekannt)

 

All diese Fähigkeiten, die ein Schulkind braucht, begründen sich in einer gesunden Schwangerschaft (manche sagen, es beginnt schon mit der Zeugung), einer natürlichen Geburt ohne Komplikationen und einem ungestörten Aufrichtungsprozess vom liegenden Baby zum gehenden Kleinkind (dazu zähle ich auch die Integration frühkindlicher Reflexe).

Diesem idealen Start schließen sich Jahre mit optimaler Förderung vor dem Schuleintritt an.

Durch all diese Komponenten hat sich die Hirnreifung ideal gestaltet.

Dass all diese Voraussetzungen komplett erfüllt sind ist realistisch gesehen eher unwahrscheinlich und so finden sich in einer Schulklasse immer Kinder mit mehr oder weniger Defiziten in den genannten Fähigkeiten.

Es darf also vermutet werden, dass bei nicht wenigen Schulkindern individuelle Lücken in dieser optimalen Entwicklung, die zu guter Lernfähigkeit führen vorhanden sind.

Diese Feststellung ist etwas frustrierend, aber es gibt eine gute Nachricht:

Durch gezielte Bewegung erhält das Gehirn eine zweite Chance zum Nachreifen!

 

Erstmal kommen wir zu den vielfältigen Vorteilen von Bewegung im Allgemeinen:

Bewegung hilft gegen Übergewicht, Haltungsschwächen, Rückenbeschwerden, vermindert das Unfallrisiko weil sich motorischer Bewegungsmangel negativ auf die koordinativen Fähigkeiten von Schülern auswirkt. Die daraus resultierende Ungeschicklichkeit erhöht die Unfallgefahr des Kindes.

Bewegung fördert die Wahrnehmungsfähigkeit in allen Bereichen und verstärkt die Konzentrations- und Merkfähigkeit.

Gemeinsame Bewegung fördert emotional-soziale Prozesse,

Bewegung fördert das Erleben und Erlernen von Rhythmik.

Gemeinsames Lernen mit und in Bewegung verbessert das individuelle Wohlbefinden, aber auch die Lernatmosphäre in der Schulklasse oder zu Hause. Dadurch wird die Lernmotivation gesteigert.

Bewegung fördert die Regulierung des Gleichgewichtssystemes in Ruhe und in Bewegung. Dadurch werden das Hören und das Sehens unterstützt.

 

Bewegungsmangel hingegen verhindert das Sammeln von Erfahrungen mit dem eigenen Körper. Schülern, die sich zu wenig bewegen, gelingt das Zusammenspiel zwischen Wahrnehmung-Bewegung-Lernen und Leisten nur ungenügend (Dorothea Beigel)

Die Gründe für den mangelnden motorischen Zustand von Kindern sind vielfältig: Enge und gefährliche Wohnumgebung, fehlende Spielräume und Spielgefährten, zeitlich überlastete Eltern und Erzieher, Konsumüberladung, hoher Medienkonsum…

Dies alles führt zu passivem, gesundheitsschädlichem Bewegungsverhalten mit Auswirkungen auf das Lernen.

Außerdem sei die steigende Anzahl von Sprachauffälligkeiten genannt, denn Motorik und Sprache sind entwicklungsphysiologisch und entwicklungspsychologisch untrennbar miteinander verbunden. Sprache erfährt durch motorische Elemente Unterstützung.

 

Nun kommen wir zu ein paar Beispielen, die aus dem Schülerleben gegriffen sind:

Ich beschreibe Ihnen die Situation von drei unterschiedlichen Schülern, die in der selben Klasse zu finden sind:

Versetzen Sie sich in die Lage eines Kindes, das von allen visuellen Nebensächlichkeiten hier im Raum abgelenkt wird. Beispiele: Sitznachbar bewegt sich viel, Mobile an der Decke, Bewegung vor dem Fenster, usw…. Außerdem schaltet das Gehirn bei Überforderung des visuellen Systems ein Auge ab und bei Stress ist die Sicht in die Nähe verschwommen. Und nun versuchen Sie einen Text von der Tafel auf Ihr Blatt zu übertragen. So könnte sich ein Kind fühlen, dessen visuelle Funktionen beeinträchtigt sind.

Das nächste Kind kann seine auditive Wahrnehmung nicht filtern, alle Geräusche im Raum und draußen werden gleichwertig wahrgenommen. Beispiele: Das das Ruckeln und Rascheln, das andere Schüler verursachen, draußen wird Rasen gemäht, ein Gerät surrt, usw... Die Verarbeitungsgeschwindigkeit des Gehörten ist etwas verlangsamt und das Richtungshören funktioniert auch nicht so gut. Die Differenzierung von Lauten ist leider auch nicht perfekt, das kann manchmal zu Missverständnissen führen. Das Kind reagiert nicht immer adäquat auf Ansprachen und das führt zu unangenehmen Situationen. Am besten plappert man es diesem Fall laut, damit es wenigstens sich selber gut wahrnehmen kann, das Kind versucht durch Herumkaspern abzulenken und durch Gegenfragen zu vermeiden, dass es die nicht wirklich wahrgenommene Frage beantworten muss.

Das dritte Kind hat Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht in Ruhe. Es muss, um sich konzentrieren zu können, sein Gleichgewichtsorgan im Innenohr permanent stimulieren. Also schaukelt es auf dem Stuhl, ist zappelig und unruhig und kann der Aufforderung, endlich still zu sitzen, nur ganz kurz nachkommen. Durch die Blicksprünge beim Lesen wird das Gleichgewicht noch mehr aus der Fassung gebracht und wenn das Gleichgewicht nicht gut funktioniert, wird es auch mit dem Hören schwierig.

Trotzdem wird das Kind immer wieder ermahnt, still zu sitzen, unter anderem, weil sich Kind eins und Kind zwei massiv von ihm gestört fühlen.

Alle drei Typen werden sich garantiert mehrfach in einer Schulklassen finden!

 

Was können wir als TherapeutInnen also tun?

Wir können zum Beispiel das Gleichgewicht trainieren!

Wie Sie gelesen haben , ist das Gleichgewicht in Ruhe super wichtig für ein Schulkind. Der Gleichgewichtsapparat ermöglicht die Aufrechterhaltung von Kopf und Körper.

Das Gleichgewichtssystem ermöglicht das zielgenaue Bewegen der Augen und unterstützt die Hörwahrnehmung.

Gleichgewichtsübungen zu Anfang jeder Schulstunde haben nach einer Studie des hessischen Kultusministeriums nachweislich zu gesteigerten Noten in den Fächern Sprache und Mathematik geführt.

Wie können sich Schwierigkeiten in der Verarbeitung von Gleichgewichtsreizen auswirken?

Gleichgewichtsstörungen können das Leben eines Menschen stark beeinträchtigen. Schwindel, motorische Fehlleistungen, Sprach-und Lernstörungen,

Koordinationsschwierigkeiten, Ungeschicklichkeit, häufiges Stolpern, Vermeiden langsamer Bewegungen, Vermeiden von Balancieren, Klettern und Höhe (mit Angst bis Verweigerung) oder im Gegenteil Waghalsigkeit und der unablässige Drang zum Drehen, Schaukeln, Hüpfen, Rutschen, es führt zu Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwierigkeiten und zum Beispiel auch Rechenschwierigkeiten, die zurückgehen auf Schwierigkeiten, sich im Raum orientieren zu können.

Ein ausgeglichenes Gleichgewicht unterstützt körperliches Wohlbehagen und Gesundheit.

Gleichgewichtsreize in der richtigen Form und wohldosiert dienen der Gehirnentwicklung und regen die Gehirntätigkeit positiv an.

Wir sollten auch das Hören, bzw. die Hörverarbeitung trainieren und zwar in Verbindung mit Gleichgewichtsübungen.

Alfred Tomatis, ein französischer HNO Arzt und Begründer der Tomatis Therapie, nannte das Hören den „Dynamo für das Gehirn“.

Gutes Hören besteht nicht nur aus einem gut absolvierten Hörtest alleine!

Die Verarbeitungsgeschwindigkeit des Gehörten, das Richtungshören, die auditive Merkfähigkeit und die Wahrnehmung kleinster Unterschiede in der Tonhöhe gehören genauso dazu!

Funktioniert das alles nicht reibungslos, kann es zum Beispiel zu Sprach- und Sprechproblemen kommen, Schwierigkeiten in der Rechtschreibung gehören dazu. Es kann zu Schwierigkeiten mit der Orientierung, dem Gleichgewicht, Schwindel, sowie allgemeinem Unwohlsein, das sich durch Unruhe oder Rückzug äußert, führen.

All die genannten Fähigkeiten, die wir zum guten Hören brauchen, können trainiert werden.

Außerdem können wir TherapeutInnen den Aufrichtungsprozess vom liegenden Baby zum gehenden Kleinkind wiederholen. Dazu zähle ich auch die Unterstützung zur vollständigen Integration frühkindlicher Reflexe. Manchmal sind da nämlich noch unerwünschte Restreaktionen vorhanden, die einem Menschen das Leben unnötig schwer machen. Mehr möchte ich zu den frühkindlichen Reflexen im Rahmen dieses Vortrages nicht sagen, es ist ein Thema, das alleine schon abendfüllend wäre.

Ich hatte eingangs schon erwähnt, dass das erste Lebensjahr in der Entwicklung ganz besonders wichtig ist und dass Lücken in dieser Entwicklung Folgen für das spätere Leben haben können.

Wir TherapeutInnen können diese Lücken erkennen und können mit gezielten Körperübungen dem Gehirn eine zweite Chance geben um nachzureifen.

Und natürlich sollten wir auch das Sehen unterstützen! Das ist ja die Kernkompetenz bei uns in der Praxis für Sehverhalten.

Wie beim Hören ist es auch beim Sehen so, dass gutes Sehen nicht nur aus einer guten Sehleistung alleine besteht.

Die Augen müssen vor allem als Augenpaar gemeinsam gut funktionieren, sonst ermüden unsere Augen sehr schnell, das Sehen ist anstrengend und die Buchstaben tanzen, man kann nicht auf der Linie schreiben, Abschreiben funktioniert nicht und beim Blick vom Heft zur Tafel ist die Sicht unscharf, oder auch umgekehrt.

Die Augen müssen zum Beispiel treffsicher gemeinsam von einem Punkt zu einem anderen Punkt springen können. Diese Strecke muss außerdem vom Augenpaar auch in einer gemeinsamen, flüssigen Bewegung zurückgelegt werden können.

Dann muss das Augenpaar muss in der Lage sein, den Seheindruck sofort auf verschiedenen Distanzen scharfstellen zu können.

Außerdem muss das Augenpaar muss in der Lage sein, exakt gemeinsam nach innen zu drehen (auf nahegelegene Objekte) und auch gemeinsam wieder exakt nach außen zu drehen (für Objekte in der Ferne).

Zuletzt muss das bisher erfolgreich Gesehene muss jetzt noch interpretiert werden, es muss also eine Sinnentnahme erfolgen.

Auch all diese Komponenten können trainiert werden!

 

Zu guter Letzt noch Antworten auf die Frage, was Sie als Eltern / ErzieherIn / LehrerIn denn tun können?

Als Eltern sollten Sie Ihr Kind in Bewegung bringen!

Am besten gemeinsam raus in die Natur, bei jedem Wetter.

Gemeinsam handwerken, gärtnern, kochen, backen.

Wenn Sie in einem Entwicklungsbereich Ihres Kindes unsicher sind, aber immer wieder hören „das verwächst sich schon wieder“ lieber einmal mehr testen lassen.

Meistens liegen die Eltern instinktiv richtig!

Als ErzieherInnen und LehrerIinnen Bewegungsprogramme machen wie von Dorothea Beigel oder Wiebke Bein-Wierzbinski.

Oder nur als kleines Beispiel: Präpositionen lernt man besser, wenn man sich selber hinter, auf, vor oder unter den Stuhl begibt anstatt nette Bilder dazu zu betrachten.

Sich informieren, woran man Auffälligkeiten erkennen kann.

Z.B. durch mein Seminar zum SINE Konzept ;-)

Bei Schwierigkeiten, die individueller Hilfe bedürfen, Fachpersonen aufsuchen.

Beispiele: FunktionaloptometristIn, Tomatis TherapeutIn, ReflexintegrationstrainerIn.